Ein Floh in der Krippe

Hey, runterlassen! Sofort runterlassen! Ich will nicht fliegen! Ich will sofort auf den Boden und von dort aus schnellstmöglich zurück ins warme, weiche Fell des Ochsen. Mann hörst du nicht? Das war ein Versehen! Ich gehöre nicht in dieses Strohbündel. Ich bin ein Floh und wohne im Ochsenfell. Hätte ich mich nur nicht so überfressen, dann wäre ich jetzt nicht in dieser misslichen Lage. Mit vollem Bauch eingeschlafen und abgestürzt! Bei dieser Geschichte werden sich meine Kollegen noch in ein paar Jahren die Bäuche halten vor lachen.
So jetzt ist es aber gut, Mann. Leg dieses Strohbündel sofort zurück auf den Boden! Nein, nein, bitte nicht in die Futterkrippe! Was soll ich denn in einer Futterkrippe. Ich sehe schon, du bist ein Stadtmensch. Stroh und Flöhe gehören nicht in die Futterkrippe. Stroh kommt auf den Boden, Flöhe ins Fell. Punkt! In die Futterkrippe kommt was zum Futtern für die Tiere des Stalls. Und ich komme zum Futtern in deren Fell. Ist doch ganz einfach zu verstehen.
Für dich scheinbar nicht. Ich habe ja Verständnis dafür, dass du ein bisschen nervös bist. Schließlich bekommt deine Frau gerade ein Kind. Aber deshalb musst du doch nicht anfangen unseren Stall aufzuräumen, die Futterkrippe auszupolstern und einen unschuldigen Floh zwischen Strohbündeln in derselben einzupferchen. Ist dir eigentlich bewusst, wie mühsam es sein wird, unter dem Stroh hervorzukrabbeln und dann quer durch den Stall zu hüpfen, bis ich endlich wieder im warmen, weichen Ochsenfell sitze? Mann, wenn ich auf dem Weg nichts zu essen finde, verhungere ich. Jetzt hör endlich auf noch mehr Stroh hier herein zu packen. Es reicht! Kümmere dich lieber um deine Frau. Selbst mir Floh ist klar, dass es da gerade ernst wird. Vielleicht solltest du doch mal nach dem Rechten sehen und deinem Kind auf die Welt helfen. Auch, wenn wir Flöhe damit keine Erfahrung haben, würde ich sagen es ist bald soweit!
Na, jetzt hast du es endlich auch gemerkt. Ich hoffe, du machst deine Sache gut. Ich sehe von hier oben schon das Köpfchen! Vorsichtig, ganz vorsichtig mit deinen großen Handwerkerhänden. Ja, das sieht gut aus. Hilf dem kleinen zarten Wesen ganz vorsichtig auf die Welt.
Du schaffst das, Mann! Sie schafft das. Wir schaffen das! Habt ihr das alle mitbekommen oder verschlaft ihr dieses große Ereignis. In unserem Stall wird ein Kind geboren! Unglaublich! Na los, wacht auf, seht euch das an! Da in der Ecke über dem Mausloch kommt gerade ein Kind zur Welt!

Moment, jetzt fällt bei mir der Groschen. Mann, du hast diese Futterkrippe als Bettchen für dein Kind gerichtet. Halt, halt, das geht jetzt wirklich zu weit, ja. Du hast mich hier in die Futterkrippe gepackt, hast mich unter Stroh fast erstickt – okay, das sei einem werdenden Vater verziehen. Du wirst später aber nicht noch dein Baby in die Futterkrippe – auf mich – legen! Wir hatten das, glaube ich, besprochen. In die Futterkrippe gehört etwas zum Futtern für die Tiere des Stalls, ein Baby ist definitiv kein Futter. Also ist diese Krippe auch nicht der richtige Platz für dein Baby. Und für mich im Übrigen auch nicht. Schon gar nicht, wenn ich diese Krippe mit deinem Baby teilen muss. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn ich Hunger bekomme. Da kennen wir Flöhe weder Freund noch Feind. Da wird gestochen und gespeist. Mann, ich kann doch nicht das Baby stechen, bei dessen Geburt ich gerade dabei bin!
Hört der mich nicht, oder will er mich nicht verstehen? Ich muss hier raus, bevor es zu spät ist. Wenn dieses Kind schon nur eine Futterkrippe als Bettchen haben wird, soll es diesen Platz wenigstens nicht noch mit mir teilen müssen.

Heike Nied

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