Heimat

Jetzt lauf doch nicht so schnell! Bitte, bitte nicht so schnell! Ich komm dir nicht hinterher, Mama.
Meine Beine sind noch so kurz! Ich kann nicht mehr! So, das hast du jetzt davon. Jetzt sitze ich hier, mitten im Hof von Josefs Werkstatt und kann nicht mehr weiter. Nichts geht mehr. Nicht mal mehr ein winziger, klitzekleiner Igelschritt.

Das ist wirklich gemein. Die großen Igel können so schnell über den Hof laufen und unter dem nächsten Laubhaufen verschwinden. Da komme ich kleiner Igel einfach nicht mit. Zu wenig Puste, zu kurze Beine und noch nicht genug Training.
Tja, und dann sitze ich plötzlich ganz allein mitten in diesem riesigen Hof. Ich fühle mich gar nicht wohl so ganz allein. Obwohl ich hier im Hof geboren bin, ist es mir hier ziemlich unheimlich ohne schützenden Laubhaufen und ohne meine Mama.
Am schönsten ist es, wenn ich unter dem Laubhaufen, ganz dicht bei meiner Mama liegen kann. Dann spüre ich ihre Wärme und ihren Herzschlag und fühle mich so wohl, dass ich mir wünsche, dass das immer so bleibt. Hoffentlich hört dieser Moment nie auf, denke ich dann, und genieße die Geborgenheit. Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen Heimat nennen.

Josef und Maria werden ihre Heimat morgen verlassen. Die beiden sind ganz schön mutig. Also, ich glaube, ich werde meine Heimat niemals verlassen. Nur, wenn ich muss.
Josef und Maria gehen auch nicht freiwillig, glaube ich. Josef sagt, dass sie weggehen müssen, weil der Kaiser sie zählen will.
Dieser Kaiser weiß bestimmt nicht wie schön es zu Hause ist. Sonst würde er doch nicht seine Untertanen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Wenn ich mir das jetzt richtig überlege, bin ich froh, dass ich ein Igel bin. Ich habe zwar kurze Beine und wenig Puste, aber dafür interessiert es den Kaiser nicht wie viele von uns in seinem Reich leben. Wie gut, dass wir uns nicht auf die Reise machen müssen, so wie Maria und Josef.
Die beiden schnüren gerade ihr letztes Bündel zusammen. Ob das alles auf den Esel passt? Also, wenn ich mir das so ansehe, bin ich auch froh, dass ich kein Esel bin. Ist aber auch kein Wunder, dass sie so viel mitnehmen müssen. Schließlich bekommen sie bald ein Kind. Und meine Mama hat erzählt, dass Menschenkinder viel mehr Sachen brauchen als kleine Igel.
Hoffentlich finden sie unterwegs einen schützenden Laubhaufen unter dem das kleine Menschenbaby dann ganz dicht bei seiner Mama Maria liegen kann.

Maria macht sich gar keine Sorgen. „Josef, sei nicht so bedrückt“, sagt sie. „Es wird alles gut werden. Wo immer unser Weg uns auch hinführt, unser zu Hause ist dort, wo wir zusammen sind und Gott seine schützende Hand über uns hält.“

Wisst ihr was, ich glaube Maria, Josef und das Baby brauchen gar keinen schützenden Laubhaufen, solange Gottes Hand sie beschützt.

Heike Nied

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