Die Hirten

Hirten gibt es überall

Auf den Feldern vor Bethlehem sitzen Männer um ein Feuer,
erholen sich von den Strapazen des Tages,
essen und trinken gemeinsam,
erzählen sich Geschichten, die ihr Leben schrieb,
und hüten die Schafe.

Ein Hauch von Abenteuer, für den Betrachter.
Oder eher ein Idyll?
Wie war das noch gleich mit dem guten Hirten?

Abenteuer, Idyll und guter Hirte – weit gefehlt.

Auf den Feldern vor Bethlehem sitzen Männer um ein Feuer,
die nirgendwo sonst einen Platz haben.
Da sitzen die Ärmsten der Armen,
raue Gesellen, ohne weiße Weste – keine guten Hirten!
Sie erholen sich von den Strapazen eines harten Tages,
essen und trinken, sofern sie etwas haben,
vielleicht weniger gemeinsam, als jeder für sich.
Die Geschichten, die ihr Leben schrieb,
sind voller dunkler Momente,
reich an Enttäuschungen und Entbehrungen
und erzählen vom Verlust der eigenen Würde.
Sie hüten die Schafe eines Herrn,
der ihre Gesellschaft nicht sucht,
ihnen aber wenigstens seine Herde anvertraut.

Auf den Parkbänken, unter den Brücken,
in den Bahnhofshallen,
in weihnachtlich geschmückten Fußgängerzonen
sitzen Männer und Frauen,
die nirgendwo sonst einen Platz haben
in unserer Welt,
deren Gesellschaft wir nicht suchen
und denen wir nichts anvertrauen würden.
Da sitzen die Ärmsten der Armen,
die Hirten unserer Gesellschaft,
mit den Geschichten, die ihr Leben schrieb,
meist ungesehen und überhört.

Hirten gibt es überall!
Ob sich wohl auch heute noch Engel finden,
die Licht in deren Dunkel bringen?

Heike Nied

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